Als 47-jähriger Familienvater sah ich das jedoch völlig anders, mitten im Berufsleben stehend und zusätzlich ausgestattet mit vier Hobbys, nämlich zwei Töchtern, Tennis und Pistolenschießen. Aber die Begeisterung, mit der er von diesem obskuren Verein sprach, bewog mich in einer schwachen Stunde, ihm nachzugeben. Mehr um des lieben Friedens willen versprach ich, ihn ein paar Mal in so eine „Sippung“, wie er es nannte, zu begleiten.
Mein erster Eindruck war mehr als verstörend. Gestandene Männer, verkleidet mit einer Art Robe und Stoffhauben auf dem Kopf, behängt mit allerlei Orden und güldenen Abzeichen, dazu seltsame Rituale und eine merkwürdige Sprache. Um Himmels Willen, wo bin ich hier hineingeraten? Auf solch eine fremde Welt hatte mich mein Schwiegervater nicht vorbereitet, und ich fragte mich, was er denn an diesem Getue nur so toll fand. Doch er ließ nicht locker. „Es reicht nicht, eine einzige Sippung zu besuchen“, beschwor er mich, „ich werde Dich in den kommenden Wochen in 6 verschiedene Schlaraffenreyche mitnehmen. Wenn Du dann immer noch der Meinung bist, Schlaraffia sei nichts für Dich, dann lasse ich Dich in Ruhe. Aber gib Dir diese Chance, Du wirst es nicht bereuen!“
Ich gab – und blieb anfangs skeptisch. Es war überall irgendwie ähnlich, aber trotzdem anders. War das wirklich etwas für mich? Die Antwort bekam ich in jener Sippung, als mein „Ritter Fechsaccord“ mit seinem Akkordion das Wesen dieses Bundes zum Leuchten brachte – und mir, schlaraffisch gesehen, ein Licht aufging. An diesem Abend trafen wir einen älteren Schlaraffen. Es stellte sich heraus, er war Russe. Ihm zu Ehren spielte Fechsaccord auf der „Quetschkommode“ russische Volkslieder – so einfühlsam und gekonnt, dass der alte Mann, der voller Heimweh war, hemmungslos zu weinen begann. Ihm wurde ein Geschenk zuteil, das wertvoller war als all der Glitter, den die Schlaraffen nur als Ironie auf das eitle profane Gehabe tragen.
Die etwas schwermütige russische Musik tat ein Übriges. Bestimmt die Hälfte der Anwesenden hatten ebenfalls Tränen in den Augen. In diesem Augenblick wurde mir klar, weshalb Schlaraffia so besonders ist. Ich hatte erkannt: Hier geht es nicht um den profanen Schein sondern um das Mensch-Sein. Hier begegnen sich Menschen auf einer anderen Ebene – der Ebene des Herzens. „Das Herz gehört dazu“ ist der Wahlspruch der Schlaraffen.
Dieses Erlebnis ist nun über 20 Jahre her, und ich habe danach Hunderte solcher Sternstunden erlebt. Denn seit jenem Abend bin ich Schlaraffe und ich möchte es bleiben – bis zum letzten Atemzug.
Ritter Knuffig